Erinnerungen an Dorothee Sölle

Friedensbewegte Mystikerin

Am vergangenen Dienstag ereignete sich im Städtli etwas Besonderes: Brigitta Lampert erinnerte an die weltbekannte Theologin und Dichterin Dorothee Sölle (1929-2003), deren Todestag sich in wenigen Wochen zum 21. Mal jährt. Diese aussergewöhnliche Frau kam im Diessenhofer Evangelischen Kirchgemeindehaus in ganzer Vielfalt und Ausdruckskraft zur Geltung. Mit grossem Einfühlungsvermögen schilderte Brigitta Lampert eine Begegnung mit Frau Sölle in der Kartause Ittingen kurz nach der Jahrtausendwende. Im Rückblick wurde jetzt im Rahmen von «Kultur am Nachmittag» ein leuchtkräftiges Lebensbild jener Weisheitslehrerin aus Hamburg gezeichnet, die auch im bibelbewussten Thurgau nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Wie die Referentin ausführte, pflegte Sölle gerade in ihrer friedensbewegten Tatkraft ein reichhaltiges Innenleben, geprägt durch Mystiker wie Teresa von Avila (1515-1582) und Meister Eckhart (1260-1328).

 

Sprachmeisterin

In lebendiger Anschaulichkeit schilderte Brigitta Lampert, welchen Eindruck Sölles Bücher wie etwa „Mystik und Widerstand“ auf sie bis zum heutigen Tag machen. «Zum einen tauche ich beim Lesen in eine wunderbar gestaltete, genaue und sehr bewegende Sprache ein, die das ausdrückt, was mir eigentlich im Innersten bekannt ist, wofür mir aber manchmal die richtigen Worte fehlten». Zum anderen werde sie bei Sölle immer wieder überrascht «mit Gedanken, die ich selber noch nie gedacht habe, die aber doch so klar und nötig sind.» Dadurch werde ihr eigenes Bibelverständnis neu ausgerichtet. Sölle habe sie zu einem «tieferen und ganzheitlicheren Glauben» geführt. Die Hamburger Theologin habe durch ihre ebenso geistreiche wie herzerfrischende Art «das verstaubte Bild von Kirche gründlich ausgemistet».

 

Ehrfurcht vor Mensch und Natur

Lamperts Vortrag im Rahmen von «Kultur am Nachmittag» behandelte jenen Aufbruch in Glaube, Religion und auch Politik, für den Dorothee Sölle mitverantwortlich sei. Sie habe grundsätzlich Partei ergriffen für Leute «im Schatten der westlichen Konsumkultur». Dabei habe sie sich nicht gescheut, den westlichen Neoliberalismus, der die Armen des globalen Ostens und Südens mit Brosamen abspeise, an den Pranger zu stellen. Solche kümmerlichen Almosen würden wie zum Hohn unter dem irreführenden Titel «global fairness» vermarktet, so Sölle in eingespielten Interview-Sequenzen des Schweizer Fernsehens vom 26.10.1997 («Sternstunde Philosophie»). Statt auf den Kapitalismus berufe sie sich auf keinen Geringeren als Jesus Christus. Dieser sei nicht nur innerhalb der Kirche zu finden: «Er lebt auch unter anderem Namen in der Welt, handelt unter anderem Namen in der Welt» – nämlich überall dort, wo Menschen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

 

Liebevolle Aufmerksamkeit

Ihr Mitgefühl für Mensch und Natur habe Frau Sölle achtsam in die Tat umgesetzt, wie Brigitta Lampert zu berichten wusste. Während jener Zusammenkunft der «Kommission für Frauenanliegen der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau» in der Kartause Ittingen 2001 habe sich die streitbare Friedenskämpferin – selbst vierfache Mutter – höchst sensibel um das Baby einer mitwirkenden Musikerin gekümmert. «Ich vergesse niemals, wie Frau Sölle, klein und zart in ihrer Statur, sich über das kleine Menschenkind beugte und mit einem so liebevollen und zärtlichen Blick zu diesem Wesen geredet hat.»

Das Gehörte und Erlebte war Mittelpunkt anschliessender Gespräche bei Kaffee und Kuchen. Als Leiterin von «Kultur am Nachmittag» dankte Tanja Schum der Referentin mit einem Präsent. Mit einer Fülle nachdenklicher Anregungen klang diese Veranstaltung in froher Geselligkeit aus.

Der nächste Anlass in dieser Reihe ist am 20. Februar bei einem «Volkstümlichen Nachmittag mit den Alpstein-Nixen».

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