Predigt am Sonntag des guten Hirten 01. Mai 2022 in Diessenhofen

„Kein Hirt – eine Herde, jeder will das Gleiche, jeder ist gleich, wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.“ Sagt Friedrich Nietzsche („Also sprach Zarathustra“ Kapitel 5)

„Ich bin der gute Hirte und kenne meine Leute, und meine Leute kennen mich ebenso, wie mich mein Vater kennt und ich den Vater kenne“, sagt Jesus Christus (Johannesevangelium Kapitel 10,14-15).

 

1          Kopflos

Kein Hirt weit und breit. Die Herde bleibt sich selber überlassen. In welche Richtung gehen wir? Womöglich folgen wir dem Herdentrieb? Tun das gleiche? Blöken miteinander? Rennen in dieselbe Richtung?

Oder das Gegenteil ist der Fall: Wir springen auseinander. Jeder in die andere Richtung. Geraten wir in Streit? Böcke sind angriffslustig. Schafe können ganz schön streitsüchtig sein. Der eine äussert dies, die andere das. Nicht selten gibt es Streit über kleine, empfindliche Fragen.

Ein Wort wechselt das andere. Steigert sich das von den Worten zu den Fäusten? Verbittert geht man auseinander – wenn man vor Schmerzen überhaupt noch laufen kann. Der eine marschiert in diese einsame Richtung, die andere in eine andere Richtung, die ebenso einsam ist.

2          Tausend Einzelgänger

Oder sind wir gleichgültig gegeneinander? Covid hat die Neigung zur Vereinzelung – die sowieso in nicht wenigen drinsteckt – noch verstärkt. „Die Menschen sind schlecht. Jeder denkt an sich. Nur ich denk an mich ….“

Du kümmerst dich um deine Sachen. Um deine Sorgen allein. Du bist du. Ich bin ich. Ich und du sind auseinander und allein … Ist das die traurigste Hauptsache der Welt?

Man nennt das wohl auch Selbst-Isolation. Oder Selbst-Verwirklichung? Das Wort war durchaus modern. Ist es immer noch. Weil es einer Strömung unserer Zeit entspricht, die auf immer mehr individuelle und zugleich kleinformatige Freiheit hinaus läuft – und die grossen gemeinschaftlichen Fragen der Zukunft aussen vor lässt.

Und die christliche Herde? Ist zersplittert. Die bürgerliche Gesellschaft? Auch nicht mehr das, was sie einmal war. Jeder dreht sein eigen Ding. Wer fragt noch gross nach dem Nutzen, den die Gemeinschaft davon haben könnte, was ich mache – oder eben nicht mache?

Wer braucht noch eine übergeordnete Hand? Der Markt und das Kapital treten an die Stelle höherer Autoritäten. Also vertrauen wir auf Zahlen, Formulare, Papiere, Aktien, Bitcoins.

Und wenn alle Stricke reissen? Dann setzen wir auf Rechtsanwälte. Zu denen haben wir zwar kaum einen persönlichen Draht. Ist auch gar nicht nötig. Hauptsache, die arbeiten effizient.

Schade. Sind wir Menschen nicht eigentlich auf Gemeinschaft angelegt? Dass wir uns selbstlos kennen, stützen, fördern? ausgleichend wirken? barmherzig mit Schwächeren sind? uns ermahnen und korrigieren? Oder auch mächtig anfeuern? kräftig motivieren?

3          Die ordnende Kraft

Von selber schaffen wir es schlecht, echte und tragende Gemeinschaft aufzubauen. Brauchen wir dazu nicht doch die höhere Kraft, die uns zusammenführt?

Eine neutrale und doch zugleich mitfühlend zugewandte Person müsste das sein. Einer, der über allem steht – und doch in allen Dingen drinsteckt. Der über den Dingen und Leuten ist – und trotzdem in Dinge und Leute verwickelt ist.

Eine leitende Person, die Zusammenhänge ordnet? Die ein Gespräch unterschiedlicher Menschen gestaltet, hegt und pflegt, prägt und zielführend lenkt? Das wäre ein Organisator. Ein Moderator.

Das wäre schon einmal gut, wenn wir einen solchen hätten! Aber der, den ich meine? Der müsste noch mehr können als das …

Der müsste die Richtung anzeigen können. Der müsste vorangehen in guten wie in schwierigen Tagen. Der müsste geistig gerüstet, aber auch körperlich bewaffnet sein. Der müsste in der Lage sein, seine Leute zu verteidigen, zu schützen, in eine gute Richtung voran zu bringen, vor falschen Wegen zu bewahren.

4          Der treue Menschenhüter

Ein guter Hirte müsste das also sein! Mit anderen Worten: Ein treuer Menschenhüter.

Einer, der jeden einzelnen fördert. Der jeden aufbaut und zielführend begleitet. Der die Schwachen stützt. Der für Ausgleich sorgt.

Der aber auch Starke nicht verachtet. Sondern sie ebenfalls fordert und fördert – je nach ihren Begabungen, nach ihren Leistungen.

Der grundsätzlich allen seinen Menschenkindern mit Liebe und Fürsorge begegnen. Der auf jeden und jede zugeht und eingeht.

Ein ideales Bild? Zu schön? Gibt es Parallelen? Gab es das schon einmal?

Schauen wir in die Völkerwelt. In frühere Gesellschaften. Das war damals schon so eine Art  von Hirtenkultur. Die Leute waren nämlich recht stark von Hirten – also leitenden Persönlichkeiten – geprägt. Die damaligen Zeitgenossen waren eingebettet in eine grosse, umfassende, freilich ziemlich stark abgestufte soziale Pyramide. Sie lebten unter autoritärer Führung. Aber geborgen.

War das gut? Oder nicht gut? Oder dazwischen? Lassen wir die Frage unbeantwortet im Raum stehen. Fest steht: Es war so. Und wahrscheinlich hat es wohl schon seinen Sinn gehabt.

5          Wie auf Erden so im Himmel

Frage: Könnte ein solches Führungsprinzip auch unter uns wieder eingeführt werden? Schwierige Angelegenheit. Wir sind gebrannte Kinder. Autoritäre Modelle lieben wir nicht – selbst wenn sie im Gewand des guten Hirten einher gehen.

Versuchen wir, diese Frage aus einer anderen, unerwarteten Perspektive anzugehen.

Ist das Leistungs- und Führungsprinzip – das hier auf dieser Welt ziemlich umstritten ist – vielleicht in einer höheren Welt dankbar? Gibt es überragende Hirtenfiguren etwa in der Welt der Engel?

Also dass es dort höhergestellte oder ganz ganz hochgestellte Geistwesen gibt? Die die Ordnung in der Gemeinschaft der Engel aufrecht erhalten, prägen, entwickeln? Die sagen, wohin es geht?

Gibt es unter den Engeln überhaupt gesellschaftliche Verhältnisse wie bei uns? Wenn, dann vermutlich auf sehr viel höherem Niveau.

Die Engel tun ja nicht einfach automatisch – wie Roboter – das Gute. Sondern, so perfekt sie sind, brauchen sie doch auch Führung, Anleitung, Prägung, Lenkung, Betreuung – natürlich auf einem ganz hohen Level.

Wer sind dann also die geheimnisvollen Hirten der Engel? Sind das die geheimnisumwitterten Thronwächter – also die Cherubim und Seraphim, die sogar noch über den Erzengeln stehen?

Die im Auftrag Gottes die unendliche grosse Schar der himmlischen Heere und himmlischen Chöre führen, gestalten, prägen, leiten, bewegen, beauftragen, hegen, pflegen?

Und Gott?

Ist er dann so etwas wie der alleroberste Hirte aller Cherubim und Seraphim, aller Engel, Erzengel, himmlischen Heere, himmlischen Chöre – ebenso wie er natürlich auch der gute Hirte aller Lebewesen ist, die er auf diesem Planeten geschaffen hat? Vor allem der Hirte derjenigen, die er nach seinem Ebenbild geformt hat?

6          Vater und Sohn in Hirtenfunktion

Und noch etwas: Womöglich ist Gott der Vater nicht der einzige im Himmel, der diese Hirtenfunktion ausübt? Womöglich hat er seinen Sohn dazu bestimmt, mit ihm – dem Vater – zusammen diese Aufgabe wahrzunehmen?

Und genau so ist es offenbar: Nach allem, was wir aus dem neuen Johannesevangelium Kapitel 10 wissen, ist der Sohn Gottes derjenige, der die väterliche Hirtenfunktion im Auftrag seines Vater hier auf Erden ausfüllt, verkörpert, darstellt. Und stetig weiter entwickelt – nach vorne und nach oben.

So dass schlussendlich nicht nur diese Erde, sondern der ganze Kosmos schön und harmonisch unter seiner Hirtenführung einem grossartigen Ziel entgegen geführt wird.

Was aber hat das mit uns zu tun?

Folgen wir kleinen Menschen unserem grossen Heiland Jesus Christus, so fügen wir uns in seine grosse Hirtenführung – und damit zugleich in seine grosse Weltordnung – ein.

So klein wir sind, so gross ist das Netzwerk, in das uns unser guter Hirte hinein führt.

In diesem Netzwerk dienen wir unserem Heiland – und zugleich seinem Vater, der unser aller Vater ist. Wir sind Dienerinnen und Diener des dreieinigen Gottes – ja sogar Mitglieder der göttlichen Familie!

Damit sind wir aber auch in eine partnerschaftliche Rolle in bezug auf die Engel erhoben: diese sind unsere älteren Brüder und Schwestern. Sie und wir unterstehen ja den gleichen beiden grossen guten Hirten – dem himmlischen Vater und seinem Sohn.

7          Einordnung und Fortschritt

Bist du bereit, Jesus Christus als den Hirten deines Lebens zu bejahen? Du wirst reich belohnt! Du wirst, ähnlich wie hier auf dieser Erde, auch in der künftigen paradiesischen Welt deinen Platz einnehmen. Jener künftige Platz wird dir zugewiesen, sobald du in die neue Zeit und Welt übertrittst.

Und was tust du jetzt?

Trainiere und studiere in der gesellschaftlichen „Herdengemeinschaft“, in die du jetzt hinein gestellt bist. Bilde dich fort! Tue Gutes! Baue Kontakte! Erfülle deine Aufträge! Lass dich durch die anderen trösten und aufbauen! Erfahre den Sinn und Zweck deiner Platzanweisung innerhalb der christlichen Gesellschaft, in der du stehst.

Genau damit ist ein Förderungs- und Fortschrittsprogramm verbunden. Dem sollst du dich unterziehen. Das ist wie eine Trainings-Vorstufe in bezug auf die neue Zeit und die neue Welt.

Das ist die Gemeinschaftsordnung „unter“ dem Guten Hirten. Bejahst du sie? Fügst du dich in sie? Lernst du in dieser Gemeinschaft immer wieder etwas Neues, Überraschendes? Nimmst du deinen persönlichen Spielraum innerhalb dieser Geselligkeit wahr?

Dann bist du beschützt, bewahrt, eingebettet in einen wunderbar grossartigen Zusammenhang – in einen Zusammenklang aus Mensch und Natur, Engel und Überwelt, Erde und Kosmos, Engel und Erzengeln, Cherubim und Serafim.

Und die den Zusammenklang orchestrieren – das sind die Oberhirten Gott und Jesus im Verein mit dem Heiligen Geist.

8          Und das zieht immer weitere Kreise

„Jesu Schäflein“ zu sein bedeutet, Jesu Mitarbeiter oder Mitarbeiterin zu sein, der oder die fortschreitend zu höheren Aufgaben vorangebracht und motiviert wird.

„Jesu Schäflein“ zu sein bedeutet, in einem zunächst kleinen – und dann immer grösseren Kreis eingebettet und geborgen zu sein.

In diesem Kreis sind auch verstorbene gläubige Seelen mit dabei, die auf ihre Auferstehung warten. Sie sind ebenfalls in der riesengrossen Herde, die Himmel und Erde umspannt und Jesus als Oberhirten anerkennt, der im Auftrag des ewigen Vaters seines Hirtenamtes waltet.

„Jesu Schäflein“ zu sein bedeutet also mit anderen Worten: Du bist ein Herz und eine Seele mit allem, was lebt. Ein Herz und eine Seele mit allem, was ein menschliches Antlitz trägt – ob hier auf dieser Erde oder in der parallelen Welt. Du bist ein Herz und eine Seele mit Himmel und Erde. Ein Herz und eine Seele mit Kosmos und Weltall. Und vor allem: Du bist ein Herz und eine Seele mit dem Führer und Lenker des Kosmos namens Jesus Christus.

„Jesu Schäflein“ zu sein bedeutet: Du wirst von Gott und Jesus als deinen beiden Oberhirten begleitet, geführt, gesegnet, aufgebaut, getröstet, bewegt, motiviert, gefordert, gefördert, geprägt, angeregt und befriedet.

Christus ist der gute Hirte, Amtswalter, Fürsorger in jeder einzelnen Sache, die er tut und vertritt. Und zwar auf besondere Weise macht er das gut.

Als guter Hirt ist er weicher und zarter als ein König, natürlicher als ein Fürst, beweglicher als ein Beamter, liebevoller als ein Arzt, kräftiger als ein Feldherr.

Im Bild des guten Hirten greifen unwahrscheinlich viele menschenfreundliche Eigenschaften ineinander und ergeben ein herrliches Gesamtbild.

„Ein Hirte – eine Herde“ – welch eine Schönheit, Anmut und Stärke. „Ein Hirt – eine Herde“ – welch eine Gemeinschaft, Kraft und Höhe. „Ein Hirt – eine Herde“ – welch eine Führungsmacht und Gestaltungskraft. „Ein Hirt – eine Herde“ – welch ein Verständnis und Mitgefühl!

Er für uns und wir für ihn! Da passt kein Blatt Papier dazwischen. Amen

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