Fräulein Elise Huber: Das textile Glück in den Händen
/0 Kommentare/in Blog/von LüdersDies Bildnis ist bezaubernd schön, wie noch kein Auge je gesehn
Arie des Papageno aus der „Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart
Der 19. Mai war ein denkwürdiger Tag. Die Ausstellung „Fräulein Elise Huber: Das textile Glück in den Händen“ wurde eröffnet. Handarbeiten von unwahrscheinlicher Feinheit, Klarheit und Schönheit waren in der ehemaligen Tigerfinklifabrik zu bestaunen. So auch das Kunststickbild „Der Paradiesvogel“, das normalerweise in der Sakristei der Stadtkirche hängt. Für dieses Werk errang Fräulein Huber auf der Schweizerischen Landesausstellung in Bern 1914 einen zweiten Preis. Auch auf der Landi 1939 in Zürich war sie vertreten, diesmal mit dem Diessenhofer Wappen, das sie im Auftrag der Stadt gestickt hatte.
Was ist das Geheimnis dieser Handarbeitslehrerin und -inspektorin, die von 1892 bis 1972 in unserer Mitte lebte? Warum entwickelt sie noch ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod eine solche Ausstrahlung? Den Garnen und Stoffen gab sie eine geprägte Form, die sich lebendig entwickelt. Das ist kein totes Gewebe. Aus tausend Fäden wurden Stickbilder, die fest, schön und beständig sind. Sie fügen sich in das Gesamtbild dessen ein, was unser Städtli ausmacht und liebenswert macht.
Wir selber haben auch Bilder, und zwar tief drinnen in unseren Herzen verborgen. Und nun ist Fräulein Huber im Anmarsch. Sie knüpft an das, was in uns ist, an. Verblasste Bilder aus Urtiefen unseres Bewusstseins zieht sie hervor und gestaltet sie mit ihrer Handwerkskunst ganz frisch. Alte und doch ewig junge Bilder setzen sich nun fest in unserem Hirn. Wie etwa dieser Paradiesvogel.
Stecken in ihm nicht eigene Ahnungen, aus der Verschwiegenheit hervorgeholt und von Fräulein Huber in Gestalt und Form gebracht? Dieser Vogel bekräftigt die Würde aller Geschöpfe, die den lebendigen Atem Gottes in sich tragen. Wie fein genau und gut ist er dargestellt! Wie schwungvoll ist seine Bewegung von unten nach oben! Was für reine, natürliche Farben hat er – wie aus einer anderen Welt. Wie aus dem Paradies. Dies Bildnis ist bezaubernd schön …
Um dieser höheren Ziele willen konnte Fräulein Huber unerbittlich sein. Ihr Unterricht war darauf ausgerichtet, den Charakter zu formen. Durch die Anleitung zum strengen, genauen, konzentrierten Arbeiten eröffnete sie ihren Schülerinnen weite Horizonte. Auch unseren Blick hat sie vertieft und erweitert. Eben das tat sie an diesem 19. Mai.
Es war ein heller, freundlicher Sonntagnachmittag. Etwa hundert Menschen waren zugegen. Eine fast religiöse Stimmung beseelte uns. In der Tigerfinklifabrik und hernach in der Stadtkirche empfand ich unser Zusammensein als innere Reinigung und seelische Erhebung. Die Stoffe, Formen und Farben in der Ausstellung, die Worte und Lieder im Gottesdienst – sie erschlossen uns eine glückliche Vergangenheit, die nicht vergehen will. Diese Erinnerung ist zugleich die Brücke zur Zukunft, in der uns eine neue Tatkraft beflügelt. Dieser Sonntag im Mai wird seinen unangefochtenen Platz in der Festkultur unseres Städtli behalten. Dieser Tag hat unseren Gemeinschaftsgeist in schönster Weise beflügelt. Die Eindrücke dieses Tages begleiten uns in helle und klare Sommermonate!
In diesem Sinne grüsst Sie herzlich
Ihr Gottfried Spieth
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